Prof Dr. Peter Schrader

Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung: Wandel der Rechtsprechung

Eine Arbeitsunfähigkeit muss gegenüber dem Arbeitgeber nachgewiesen werden. Die ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist gemäß § 5 Abs. 1 S. 2 EFZG das zentrale Instrument zum Nachweis der Arbeitsunfähigkeit.

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichtes hat die ordnungsgemäß ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung einen hohen Beweiswert für das Vorliegen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit. Die ordnungsgemäß ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung hat einen sehr hohen Beweiswert für die inhaltliche Richtigkeit des ärztlichen Attestes, es gilt insoweit der Beweis des ersten Anscheins. Ein Tatrichter kann deshalb den Beweis im Fall der Arbeitsunfähigkeit mit der Vorlage der ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung als erbracht ansehen (BAG, 01.10.1997 - 5 AZR 726/96 -).

So weit so gut: Jeder arbeitsrechtliche Praktiker kennt aber jetzt die Situation, dass einem Arbeitnehmer gekündigt wird und auf einmal die Krankheitsquoten signifikant ansteigen. Arbeitnehmer melden sich häufig nach Ausspruch einer Kündigung krank. Denselben Sachverhalt kann man auch an anderer Stelle erleben: Der Arbeitnehmer beantragt Urlaub, der Urlaub wird verweigert. Was passiert? Es wird eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung eingereicht. Die Beispiele lassen sich fortsetzen.

Einen solchen Fall hatte das Bundesarbeitsgericht (BAG, 08.09.2021 - 5 AZR 149/21 -) zu entscheiden. Die Klägerin war beim Beklagten seit Ende August 2018 als kaufmännische Angestellte beschäftigt. Sie hatte selbst am 08.02.2019 das Arbeitsverhältnis zum 22.02.2019 gekündigt. Sie überreichte eine auf den 08.02.2019 datierte ärztliche Erstbescheinigung über eine voraussichtlich bestehende Arbeitsunfähigkeit bis 22.02.2019. Die Beklagte, der Arbeitgeber, verweigerte die Entgeltfortzahlung und war der Auffassung, dass der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttert sei, weil diese genau die Restlaufzeit des Arbeitsverhältnisses nach der Eigenkündigung decke. Die Arbeitnehmerin hatte dagegen geltend gemacht, sie sei ordnungsgemäß krankgeschrieben gewesen und habe vor einem Burnout gestanden.

Das Bundesarbeitsgericht ging zunächst mit seiner ständigen Rechtsprechung davon aus, dass die Arbeitnehmerin die von ihr behauptete Arbeitsunfähigkeit zunächst mit einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nachgewiesen habe, diese sei das gesetzlich vorgesehene Beweismittel. Dessen Beweiswert könne der Arbeitgeber erschüttern, wenn er tatsächliche Umstände darlegt und gegebenenfalls beweist, die Anlass zu ernsthaften Zweifeln an der Arbeitsunfähigkeit geben. Gelinge das dem Arbeitgeber, müsse der oder die Beschäftigte substantiiert darlegen und beweisen, dass er oder sie arbeitsunfähig war. Der Beweis könne insbesondere durch Vernehmung des behandelnden Arztes beziehungsweise der behandelnden Ärztin nach entsprechender Befreiung von der Schweigepflicht erfolgen.

Nach diesen Grundsätzen sei der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttert. Die Koinzidenz, so das Bundesarbeitsgericht wörtlich, zwischen der Kündigung und der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung führe zu einer Erschütterung des Beweiswertes der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung.

Was bedeutet das in der Praxis? Die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung alleine reicht nicht aus, damit die Pflicht zu Entgeltfortzahlung seitens des Arbeitgebers besteht. Der/Die Arbeitnehmer*in muss seine/ihre Arbeitsunfähigkeit voll darlegen und beweisen. Dies kann er/sie durch die Benennung des behandelnden Arztes als Zeugen oder durch weiteren Tatsachenvortrag tun.

Das bedeutet für die arbeitsgerichtliche Praxis, dass bei Fallgestaltungen der vorliegenden Art eben aus Sicht des Arbeitnehmers beziehungsweise der Arbeitnehmerin nicht allein die Vorlage der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ausreicht, sondern bei einer solchen „Koinzidenz“ zusätzlich gegebenenfalls der behandelnde Arzt rechtswirksam von der Schweigepflicht entbunden werden muss. Das Ergebnis einer solchen Beweisaufnahme wiederum wird man abwarten müssen …

Nach persönlicher Auffassung erlebt man es häufig, dass es immer dieselben Ärzte sind, die bestimmte Bescheinigungen ausstellen. Wie der Effekt sein wird, wenn nicht allein das Ausstellen der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung als Beweis für das Bestehen einer Arbeitsunfähigkeit ausreicht, sondern es der Zeugeneinvernahme des behandelnden Arztes bedarf, bleibt abzuwarten. Vielleicht - und dies ist natürlich nur eine Vermutung - wird diese Sachlage zu einem „Überdenken“ der Krankschreibungspraxis in bestimmten Bereichen führen …

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